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Ein Fall von Stechapfelvergiftung. Von R. Steindler und H. Langecker. Aus der 1. Deutschen Universitätskinderklinik in Prag (suppl. Vorstand: Prof. Dr. Felix Schleissner) und dem Deutschen pharmakologisch-pharmakognostischen Institut (Vorstand: Prof. Dr. Emil Starkenstein). Ein 4½jähriger Knabe war am 25. Oktober 1936 in den Vormittagsstunden erkrankt. Er klagte über Kopfschmerzen, verfiel dann in einen tiefen Schlaf, aus dem er nur mit Mühe geweckt werden konnte. Beim Löffeln der Suppe war ihm der Löffel aus der Hand gefallen, wie überhaupt alles, was er ergriff. Er konnte nicht stehen; beim Gehen zeigte er starkes Taumeln. Die Eltern berichteten weiters über Anfälle, während welcher Heiterkeit mit einer eigenartigen Unruhe abwechselten. Zeitweise habe der Knabe einen Punkt, als ob er eine Vision hätte, fixiert, dann focht er mit den Armen, schlug um sich und biss die Eltern. Später konnte er die Eltern und Verwandten nicht mehr erkennen. Auch fielen den Eltern die „großen Augen“ des Kindes auf. Der Knabe habe, so erzählte der Vater, unverständliche und phantastische Dinge gesprochen und unter anderem auch folgenden Satz ausgerufen: „Stopfe mir die Blumen nicht in den Mund“. Dadurch auf die Möglichkeit einer Vergiftung aufmerksam gemacht, fragte man den Bruder des Knaben, ob er über die Ursache der Erkrankung etwas wisse. Er gab an, dass das erkrankte Kind im Garten Blumen gepflückt und gegessen habe. Bei der Aufnahme des Knaben ins Krankenhaus stand im Vordergrund der sich darbietenden Symptome die starke Unruhe und Verwirrtheit. Der Knabe bewegte ständig Arme und Beine; die Finger wurden unablässig gebeugt und gestreckt und die Fäuste aneinander gerieben. Zeitweise wurde ein Punkt oder ein Gegenstand fixiert und dabei unverständliche Worte gesprochen. Lautem Auflachen folgte bald wieder Weinen. Während der Untersuchung begann das zuvor freundliche Kind plötzlich zu toben und mit Armen und Beinen wild umherzuschlagen. Somatische Untersuchung: trockene Haut, gerötetes Gesicht, weit offene Lidspalten, stark erweiterte Pupillen, die auf Lichteinfall nur wenig ausgiebig reagierten. Die PSR und ASR waren mäßig gesteigert, die Mund- und Rachenschleimhaut trocken, desgleichen die Lippen, die braun belegt waren. Die Atmung war regelmäßig, die Herztöne rein, der Puls war rhythmisch, aber stark beschleunigt (116 in der Minute). Der Blutdruck betrug 118/90, die Temperatur 36,5. Im Harn wurden keine pathologischen Bestandteile gefunden. Die Mydriasis, das gerötete Gesicht, die trockene Mundschleimhaut, die Tachykardie, der Bewegungsdrang, vor allem aber die eigenartigen psychischen Störungen, wie die Verwirrung, der Stimmungswechsel, der Rededrang, das Toben und das Nichterkennen bekannter Personen, die Halluzinationen, die Illusionen und die Angabe des Bruders, dass das Kind Blumen gegessen habe, veranlassten uns eine Atropinvergiftung nach dem Genuss einer Pflanze, die Atropin enthält, anzunehmen, wobei wir zunächst an die Tollkirsche dachten; in der uns von den Eltern überbrachten Pflanzenteilen erkannten wir aber Stechapfelfrüchte, durch deren Genuss sich das Kind vergiftet hatte. Um einen Anhaltspunkt über die aufgenommene Menge der Samen zu erhalten, wurden in dem ersten Stuhl, der 24 Stunden nach der Vergiftung abgesetzt wurde, durch Schwemmen und Sieben die Samen herausgelesen. Es fanden sich 230 Samen, zum Teil mit unversehrter Samenschale, die im mikroskopischen Flächen- und Epidermispräparat an den für Semen Stramonii charakteristischen, großen, stark verdickten, netzförmig getüpfelten Zellen der Samenschale als Semina Stramonii erkannt wurden. Die Samen wurden mit saurem Alkohol extrahiert und das Extrakt bei hydrokarbonatalkalischer Reaktion mit Äther ausgeschüttelt und der Alkaloidgehalt nach Wasicky kolorimetrisch bestimmt. Es fanden sich ungefähr 0,02 mg Alkaloid, so dass geschlossen werden kann, dass die in den Samen enthaltenen Alkaloide fast völlig im Darm eluiert und wahrscheinlich aus resorbiert wurden. Die von uns gefundene Samenmenge dürfte der Gesamtmenge der aufgenommenen Samen entsprechen, da keine Magenspülung vorgenommen worden war. Semen Stramonii enthält im trockenen Zustand 0,2 – 0,48 % Atropin bzw. l-Hyoscyamin.130 Stück frische Samen liefern etwa 1 g Trockensubstanz. Demnach wären in den 230 Samen, entsprechend 1,7 g Trockensubstanz, eine Alkaloidmenge von 3,4 – 7 mg enthalten gewesen. Im Harn der ersten 24 Stunden ließ sich ein myadrisch wirkendes Alkaloid nachweisen. (Extraktion des eingedampften Harnes mit saurem Alkohol, Ausschütteln bei hydrokarbonatalkalischer Reaktion mit Äther.) Nach dem Ausfall der Pupillenreaktion bei der Katze wurde die ausgeschiedene Alkaloidmenge auf Dezimilligramme geschätzt. Die Angaben der Literatur über die tödliche Dosen von Stramoniumsamen schwanken. Nach Kobert (Lehrbuch der Intoxikationen, S. 1043, Stuttgart 1906), sollen 15 Stechapfelsamen ein Kind getötet haben. Nach Witthaus (Manual of Toxicology New York 1911, 874) starb ein Kind von 2¼ Jahren nach der Aufnahme von 1 g Samen. In dem von Sartori (diese Zeitschr. 1931, 127) beschreibt eine tödliche Vergiftung bei eine 9jährigen Kind. Bei der Durchsuchung des Darmes wurden von ihm 100 Samen gefunden. Eine genaue Zahl der aufgenommenen Samen ließ sich aber nicht angeben, da bei der Einlieferung eine Magen- und Darmspülung vorgenommen wurde. Fuchs konnte auch nachweisen, dass aus den Samen trotz unversehrter Samenschale der größte Teil des Alkaloids herausgelöst war. In unserem Fall muss aus der im Stuhl vorgefundenen Samenmenge sowie aus dem geringen Alkaloidgehalt derselben geschlossen werden, dass die vergiftende Alkaloidmenge wenige Milligramm betrug. Therapie und Verlauf: Als Antidot wurden 3 mg Morphin und außerdem Abführmittel gegeben. Die Vergiftungserscheinungen schwanden recht schnell. Am nächsten Tag war das Verhalten des Kindes normal, das Bewusstsein klar, die Mundschleimhaut feuchter, die Pupillen reagierten besser, der Blutdruck sank auf 114. Am dritten Tag nach der Vergiftung waren mit Ausnahme der noch immer nicht sehr ausgiebigen Pupillenreaktion alle Erscheinungen geschwunden. Am 5. Tage konnte das Kind gesund entlassen werden. Puls 96. Blutdruck 90/80. Anschrift der Verfasser: Dr. R. Steindler, 1. Deutsche Universitätskinderklinik, Prag und Prof. Dr. H. Langecker, Prag 2, Albertov 7. Quelle: Steindler, R.; Langecker, H.: Ein Fall von Stechapfelvergiftung. Sammlung von Vergiftungsfällen, A 686, S. 107 - 110, 8. Band, 1937 |
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