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Intox Nerium oleander01
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Eine Vergiftung mit Nerium Oleander.

Von Rodolfo Marri

(Aus dem Institut für Pharmakologie und Toxikologie der kgl. Universität und der Abteilung für Vergiftungen des Hospitals von S. M. Nuova, Florenz.)

Ich nehme im folgenden Gelegenheit, einen Vergiftungsfall mit Nerium Oleander mitzuteilen, weniger des Falles wegen – in der Literatur sind bisher schon einige Fälle beschrieben – als vielmehr um einiger recht charakteristischen Symptome willen, die mir nicht ohne ein gewisses Interesse zu sein scheinen.

Bevor ich zur Beschreibung des Falles übergehe, möchte ich einen ganz kurzen Abriss über die Erscheinungen geben, die durch die wirksamen Bestandteile des Oleanders hervorgerufen werden. Als solche haben, wie bereits bekannt ist, das Oleandrin, das Neriin und das Neriantin (Schmiedeberg [1]) zu gelten. Am besten erforscht ist zweifellos das Oleandrin, das, wie auch experimentell erwiesen ist, auf die dem Willen unterworfene Muskulatur und das Herz eine sehr deutliche Wirkung hat; davon hat es den Ruf eines myoneuro-cardiokinetischen Mittels. Das Gesamtbild der Wirkung auf den Herzmuskel stimmt im wesentlichen mit dem des Digitalis und der digitalisartigen Glykoside überein; wie diese, zeigt das Oleandrin eine besondere Affinität zum Myokard, an das es sich mit großer Zähigkeit heftet; allerdings sind diese Bindungen mehr oder weniger langsam reversibel.

Ich habe diese Vorbemerkungen vorausgeschickt, damit die große Ähnlichkeit des durch Oleander und Digitalis hervorgerufenen Vergiftungsbildes deutlich wird.

Ich gehe nun zur Beschreibung des Falles über, den ich zu beobachten Gelegenheit hatte.

M. G. aus Sesto Fiorentino (Florenz), 42 Jahre alt, verheiratet.

Familienanamnese o. B. Eigene Anamnese gleichfalls ohne Besonderheiten, wenn man von einer im letzten Jahr durchgemachten leichten Bronchialerkrankung absieht.

Die Patientin hat eine zwölfjährige Tochter, die sich einer guten Gesundheit erfreut.

Am 2. August um 6 Uhr morgens trank sie nüchtern, um die menstruelle Blutung in Gang zu bringen (sie war seit einiger Zeit dysmenorrhoisch), einen Becher voll eines Dekotes, das aus 5 bis 6 frischen Oleanderblättern (Nerium Oleander) und einigen Pflänzchen Venushaar (Adiantum capillus Veneris) hergestellt war. Da, wie bekannt ist, die Pflanze Venushaar keinerlei giftige Wirkung auf den Organismus ausübt, ist natürlich das Vergiftungsbild der Wirkung des Oleanders allein zuzuschreiben. Als sich nach etwa einer Stunde ein unstillbares Erbrechen einstellte, trank sie etwas Zuckerwasser, das sie jedoch auch sofort erbrach. Nun begann sich eine große Mattigkeit einzustellen, die schnell immer ausgeprägter wurde, so dass sie schließlich ihre Füße nicht mehr bewegen konnte. In diesem Zustand wurde sie gegen 10,30 Uhr durch den Rettungsdienst auf unsere Vergiftungsabteilung gebracht. Im Augenblick der Aufnahme klagte die Patientin über eine bemerkenswerte Kraftlosigkeit. Sie war unfähig, sich allein im Bett aufzusetzen; es bestanden Kopfschmerzen, Erbrechen, Kältegefühl und Ameisenlaufen an den Gliedern und den Lippen.

Objektiv fanden wir eine Frau mit regelmäßig gebauten Skelett, schwach entwickeltem Fettpolster und stark entwickelter, jedoch sehr hopotonischer Muskulatur. Sie erschien schwer krank und lag fast unbeweglich auf dem Bett. Sensibilität und Bewusstsein waren noch erhalten. Ich Gesicht war bleich und ausdruckslos; die Lider waren leicht ptotisch, das Auge wenig bewegt; Pupillen leicht mydriatisch, reagieren nur wenig auf Lichteinfall. Ab und zu klagt sie über Sehstörungen und versichert, alles, was sie umgibt, wie durch starken Nebel zu sehen. Der Körper ist kalt, vor allem die Extremitäten: die Temperatur in der Achsel ist tatsächlich nicht höher als 35°C. Am Atmungsapparat sind Veränderungen nicht festzustellen; lediglich die Atmungsfrequenz ist etwas hoch.

Am Kreislaufapparat war ein wesentlich interessanter Befund zu erheben: eine sehr ausgesprochene Bradykardie (28 Pulsationen des Herzens pro Minute), Herzdurchmesser normal; die Auskultation ergab an der Spitze, dass der erste Ton von einem blasenden, sehr starken und langandauernden Geräusch gefolgt war, das sich ungefähr in der gleichen Art bis zu den Hörstellen an der Basis ausbreitete. Keine Rhythmusstörung. Der Puls ist sehr klein, fadenförmig und kaum fühlbar. Die Patientin klagte über diffuse Schmerzen im Abdomen.

Nach etwa 2 Stunden, während denen wiederholt Herzmittel verabreicht wurden und der Allgemeinzustand subjektiv wie objektiv ziemlich unverändert blieb, schien die Qualität des Pulses ein wenig gebessert; Vor allem – und das ist außerordentlich interessant – war nirgends am Herzen das oben beschriebene blasende Geräusch mehr zu hören. Der ganze Körper der Patientin war wie in Schweiß gebadet. Gegen 13 Uhr war am Kreislaufapparat ein neuer Befund zu erheben: der Rhythmus des Herzen war stark unregelmäßig geworden und dieser Zustand einer ständigen, stark ausgesprochenen Arrhythmie blieb den ganzen Tag über bestehen. Gegen 16 Uhr traten charakteristische Krampfanfälle auf, auf die ich die Aufmerksamkeit der Leser besonders lenken möchte. Die Patientin befand sich im Zustand einer über den ganzen Körper verbreiteten tetanischen Kontraktion, besonders ausgeprägt an der mimischen Muskulatur /die Lider sind sehr stark heruntergeschlagen, die Lippen rüsselartig vorgeschoben) und den oberen Gelenken, die stark gebeugt gehalten wurden. Bis zum Abend wurden vier solcher Krampanfälle beobachtet; sie dauerten jeweils 30 Sekunden bis 1 Minute, verschwanden sehr schnell, ohne den Gesamtzustand der Patientin wesentlich zu verändern. Es ist noch nachzutragen, dass das Erbrechen, mit dem die Patientin bereits ins Krankenhaus aufgenommen worden war, sehr stark den ganzen Tag und die Nacht hindurch fortbestand. Gegen 20 Uhr wurde, im Hinblick auf den Zustand starker Austrocknung des Organismus durch das übermäßige Schwitzen und reichliche Erbrechen eine 4,7 %ige Lösung von Traubenzucker (250 cm³) als Hypodermoklysma verabreicht.

Am Folgetag (3.8.) erschien der Gesamtzustand der Patientin leicht gebessert. Das Erbrechen war weniger stark, der Herzrhythmus war etwas regularisierter; es bestand jedoch immer noch eine leichte Bradykardie (46 Herzpulse / Minute); der periphere Puls war immer noch sehr klein und fadenförmig. Der schwere Zustand der Untertemperatur bestand nicht mehr: die Temperatur war nunmehr 36,5°C. Die Patientin, die seit 30 Stunden nicht uriniert hatte, entleerte gegen 13 Uhr etwa 400 cm³ Urin; dieser enthielt keine pathologischen Elemente außer leichten Spuren von Eiweiß.

Am 4. Tage hielt die Besserung des Gesamtzustandes und besonders des Herzens an. Der Rhythmus wurde immer regelmäßiger, die Bradykardie weniger ausgesprochen (52 Pulse / Minute). Der Puls ist eher voll und kräftig. Am 6. Tage war der Zustand der Abgeschlagenheit und der beträchtlichen Schwäche, wie sie noch an den vorhergehenden Tagen bestanden, verschwunden; die Patientin fühlte sich kräftig. Der Rhythmus des Herzens war vollkommen regularisiert, obgleich immer noch eine gewisse Bradykardie bestand. Am nächsten Tag betrug die Pulsfrequenz 60 / Minute. Am 9. Tag fühlte sich die Patientin gut und stand auf. Der Herzrhythmus war ganz regelmäßig, die Pulsfrequenz bis zu 80 Schlägen / Minute gestiegen. Nachdem sie sowohl hinsichtlich des Gesamtzustandes wie auch des Verhaltens ihres Herzens wieder vollständig normal war, wurde sie am folgenden Tage aus unserer Abteilung entlassen. Nachzutragen ist, dass sie während der gesamten Dauer ihres Krankenhausaufenthaltes ohne Fieber war.

Aus der oben gegebenen Beschreibung der klinischen und semiologischen Hauptzüge ergibt sich das Gesamtbild der Oleander-Vergiftung als ein plötzlich auftretendes und beträchtlich schweres. Es ist wirklich eindrücklich genug; nicht so sehr durch den so charakteristischen Zustand der neuromuskulären Adynamie als durch die bereits von Coronedi (2) sehr klar beobachteten alarmierenden Symptome am Kreislaufapparat, besonders am Herzen, mit allen ihren möglichen Folgeerscheinungen (Untertemperatur usw.). Diese Symptome sind, wie wir gesehen haben, charakterisiert durch die Dauer und Länge ihres Bestehens (Bradykardie, Darniederliegen des Kreislaufs) als Ausdruck der besonderen Affinität der wirksamen Bestandteile des Oleanders zum Myokard und der Langsamkeit, mit der sie zur Ausscheidung kommen. Weiterhin erscheint charakteristisch der Wechsel und das schnelle Aufeinanderfolgen der Symptome in einem kurzen Zeitraum. Hierin gehören die blasenden Geräusche und die Arrhythmie, die beide eine schwer funktionelle Störung des Herzmuskels anzeigen als Folge der toxischen Wirkung der Oleanderglykoside. Es wäre sicher außerordentlich interessant gewesen, diese funktionellen Veränderungen des Myokards elektro-cardiographisch zu untersuchen, um sie genauer zu erforschen und tiefer einzudringen, was durch noch so genaue klinische Untersuchungen nicht möglich ist; leider mangelte mir hierzu die Möglichkeit. Das therapeutische Handeln leitet sich aus der Beobachtung der mächtigen Herzwirksamkeit der Oleanderwirkstoffe her. Um sich gegen den drohenden Kollaps zu schützen, empfiehlt sich die reichliche Verabreichung von Herzmitteln und zwar solange, wie die funktionellen Schäden bestehen, die der Ausdruck einer fortbestehenden Vergiftung des Myokards sind.

Auch in dem oben beschriebenen Fall wurde von Anfang bis zum Ende eine sehr energische Behandlung ins Werk gesetzt. Beginnend mit der subkutanen Verabreichung von 1,8 g Kampfer in Form von Kampferöl und 0,2 g Coffein innerhalb von 24 Stunden, wurde die Behandlung, wenn auch weniger intensiv, fortgesetzt bis zum Verschwinden der Herzsymptome. Es ist klar, dass eine solche Therapie auch die neuro-muskuläre Adynamie günstig beeinflusst.

Ein anderes interessantes, bei unserer Patientin beobachtetes und oben beschriebenes Phänomen besteht in kurzen Krampfperioden mit dem Zustand tetanischer Kontrakturen, das sich nur an einigen Muskelgruppen zeigte. Krampfzustände sind bereits beschrieben in dem Fall von A. Winter Blyth (6) und dem von S. Profilo (7); in den Fällen von Coronedi (2), von P. M. Niccolini (3) und von Scotti (4) wird nichts von Krämpfen mitgeteilt.

Die bei Tieren nach Vergiftung mit Oleander beobachteten Krämpfe (Orfila, Kurzak, Grognier [8]), wurden als Effekt einer gesteigerten Reizbarkeit der nervösen Zentren gedeutet.

Was das Erbrechen betrifft, so kann es, wenn es über mehrere Tage, wie in unserem Falle, anhält, kaum durch einen einfachen mechanischen nervösen Reflex, wie die Kontaktwirkung des Giftes mit der Magenschleimhaut, unterhalten werden, sondern muss vermutlich eher einen zentralen und nervös-reflektorisch bedingten Ursprung haben, wobei das Herz den Ausgangspunkt darstellt.

Zusammenfassung: Nach einem kurzen Abriss über das Erscheinungsbild der durch die Wirkstoffe des Nerium Oleander bedingten Wirkungen beschreibt der Verfasser eine Vergiftung durch Einnahme eines aus frischen Oleanderblättern hergestellten Dekoktes. Er beschreibt besonders eingehend die Herzveränderungen und weist auf die Notwendigkeit einer energischen, passenden und über längere Zeit fortgesetzten Herztherapie hin.

Literatur:

  1. Schmiedeberg, O.: Arch. f. exp. Path. u. Pharm. 16 (1883), pag. 148

  2. Coronedi, G.: Lo Sperimentale 1932, pag. 51

  3. Niccolini, P.M.: Giornale di Clinica Medica 1923, pag. 18

  4. Scotti, G.A.: Il Policlinico. Sez. pratica 1930.

  5. Wateft: Dtsch. med. Wschr. 1882, pag. 9

  6. Winter Blyth, A.: Poisons: Their effects and detection. C. Griffin & Co., London 1920

  7. Profilo, S.: Arch. It. di Scienze Farmacologiche 1933, pag. 214

  8. Orfila-Kurzak-Grognier: Cit. nach Cantani: Manuale di Farmacologia Clinica. Vol. 3°. Vallardi, Milano

  9. Rummo u. Ferrarini: Riforma Medica 1888

Anschrift des Verfassers: Dr. Rodolfo Marri, Assistent. Instituto di Farmacologia e Tossicologia della R. Università. Florenz. (8 R) Viale G. B. Morgagni

Quelle: Marri, R.: Eine Vergiftung mit Nerium Oleander. Sammlung von Vergiftungsfällen, A 702, S. 177 - 180, 8. Band, 1937

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Stand: 31. Oktober 2007

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