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Intox Solanum tuberosum01
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Toedliche Solanin-Vergiftung durch den Genuss von Kartoffelbeeren.

Bericht auf Anforderung der Schriftleitung. Eine ausführliche Veröffentlichung erscheint in Ziegl. Beitr. Zur Pathologie unter besonderer Berücksichtigung  der Hirnschwellung bei verengtem Synostosenschädel.

Von A. Terbrüggen.

(Aus dem Pathologischen Institut der Universität Greifswald. Direktor: Prof. Dr. Loeschcke.)

Der tödliche Ausgang einer Solaninvergiftung durch den Genuss von Kartoffeln oder Kartoffelbeeren (Solanum tuberosum) scheint beim Menschen außerordentlich selten zu sein. In der Literatur findet sich nur ein einziger einigermaßen sicherer Fall von Morris aus dem Jahr 1859, der ein 14jähriges Mädchen betraf. Überhaupt ist die Solaninvergiftung durch Kartoffeln oder Kartoffelbeeren oder Früchte beim Menschen seltener als bei Tieren, wo sie nach Fröhner ziemlich häufig vorkommt. Leichtere Vergiftungen sind allerdings doch früher mehrfach, vor allem bei kasernierten Soldaten, aufgetreten, wo an Symptomen Kopfschmerz, kolikartige Leibschmerzen, Erbrechen, Durchfall, Abgeschlagenheit und leichte Benommenheit, z.T. auch Pulsbeschleunigung, Sehstörungen, Zyanose und sogar Temperatursteigerung beobachtet sind. In den neueren Lehrbüchern wird oft bezweifelt, dass es sich hier um Solaninvergiftungen gehandelt hat. Doch zeigt der Vergleich der Symptome mit den experimentell erzeugbaren Erscheinungen, die sehr genau von Perles untersucht worden sind, dass es sich wahrscheinlich doch um Solaninvergiftungen gehandelt hat. Diese Vergiftungen kamen durch Genuss sehr großer Mengen von wahrscheinlich unreifen oder keimenden Kartoffeln zustande.

Kobert gibt an, dass die reifen Kartoffeln nur wenig (0,002 bis 0,01 %) Solanin enthalten, während unreife Kartoffeln bis 0,6 % aufweisen können. Da die toxische Dosis bei 0,3 g liegt, würde also schon ½ kg unreife Kartoffeln genügen, um eine Vergiftung hervorzurufen. Die Kartoffelbeeren, um die es sich in unserem Fall handelt, sollen noch reicher an Solanin sein. Auch ist zu berücksichtigen, dass bei Kindern kleinere Dosen wirksam sein können. Warum es nun aber nur selten zum tödlichen Ausgang der Vergiftung kommt, hat uns Perles durch seine Experimente erklärt, der nachwies, dass das Solanin sehr schnell ausgeschieden wird. Wenn es sich beim Solanin auch um ein schnell ausgeschieden wird. Wenn es sich beim Solanin  auch um ein Protoplasmagift mit hämolytischen Eigenschaften handelt, so werden die Krankheitssymptome und der Tod doch wohl nicht dadurch, sondern durch eine akute Hirnschwellung, wobei Hirn und Rückenmark blutleer, die Gefäße aber blutgefüllt sind. Wenn das Gift nicht zu schnell gegeben wird, kommt es auch zu gastrointestinalen Erscheinungen. Diese experimentell erzeugten Erscheinungen stimmen nun weitgehend mit den Vergiftungssymptomen, die bei den beschriebenen Massenerkrankungen auftraten. Wie erwähnt, kommt es gewöhnlich nicht zu schweren Folgen, da das Solanin sehr schnell ausgeschieden wird. Die Hirnschwellung, die sich in den Kopfschmerzen dokumentiert, geht schnell vorüber, wenn zwischen Schädelraum und Gehirngröße normale Verhältnisse bestehen. Wenn dagegen der Schädelinnenraum von vornherein eingeengt ist, wird eine Hirnschwellung eher schwere Symptome machen und evtl. zum Tode führen. Einen solchen Fall konnten wir im vorigen Jahr beobachten.

Anfang Oktober 1935 wird ein 3 Jahre und 3 Monate alter Knabe unter dem Verdacht einer Vergiftung in die hiesige Kinderklinik eingeliefert. Von den begleitenden Eltern wird angegeben, dass das Kind am Nachmittag vorher mit auf dem Felde gewesen sei und wahrscheinlich grüne Beeren von Kartoffelsträuchern gegessen hat. Wenigstens hat die Mutter den Jungen mit einer Beere in der Hand angetroffen und  die anderen Kinder, die mit dem Jungen gespielt hatten, gaben an, dass er schon mehrere Beeren gegessen habe. In der folgenden Nacht wurde das Kind weinerlich und unruhig. Am anderen Morgen soll es viel weniger als sonst an allen Dingen der Umgebung interessiert gewesen sein, hat aber noch beim Nachbar gespielt. Gegen Mittag kam das Kind kreidebleich und sehr matt mit Klagen über Bauch- und Kopfschmerzen nach Hause. Der Nachbar gab an, dass sich der Junge vorher bei ihm erbrochen habe.

Bei der Klinikaufnahme ist das Kind schwer krank und benommen, auffällig schlaff, wälzt sich immer auf die linke Seite, streckt den Kopf zeitweise extrem in den Nacken und blickt ziellos umher. Auf Fragen erfolgt keine Antwort.

Der Junge macht einen pastösen Eindruck, die Haut ist bei der Untersuchung blass, die Schleimhäute sind zyanotisch, Pupillen reagieren auf Lichteinfall, Patellarsehnenreflex nur rechts auslösbar, Babinski positiv.

Keine Lymphknotenschwellungen, Zunge trocken und belegt. Leib weich, aufgetrieben. Temperatur um 16 Uhr 38,5°.

Der Zustand verschlimmert sich rapide. Es wird eine Lumbalpunktion vorgenommen, nach deren Beendigung der Tod eintritt. Es zeigt sich ein stark erhöhter Liquordruck (80 mm Hg). Nonne und Pandy negativ.

Im Stuhl baketriologisch keine Typhus- oder Paratyphusbazillen.

Sektionsbefund: Akute Hirnschwellung bei verengtem Turmschädel mit Synostose der Kranz- und Sagittalnaht. Atrophie der Tabula int. des Schädels infolge chron. Missverhältnisses zwischen Hirn und Schädelkapazität.

Akutes schweres Lungenödem. Akute Gastroenteritis, akute Stauung aller Organe. Akute Schwellung und Ödem der Leber, des Herzmuskels und der Nierenrinde. Thymushyperplasie, Lymphatismus.

Körpergröße 87 cm. Hirngewicht 1250 g.

In der Harnblase findet sich etwas klarer Urin. Herr Dozent Dr. P. Holtz, Pharmakologisches Institut Greifswald, hat uns diesen Harn auf Solanin untersucht und eine positive Probe mit Selenschwefelsäure erhalten. Gleichzeitig wurden Kontrollversuche mit reinem Solanin angestellt.

Somit war an der Diagnose Solaninvergiftung kein Zweifel mehr. Auch die Befunde, die wir erheben konnten, vor allem die akute Hirnschwellung und die akute Gastroenteritis stimmen so sehr mit den experimentell von Perles erhobenen und den Symptomen der beschriebenen Massenvergiftungen überein, dass wir schon auf Grund dieser Sektionsbefunde zu der sicheren Diagnose kommen konnten. Natürlich wurden fast alle Organe histologisch untersucht, vor allem, um evtl. doch eine andere Todesursache finden bzw. ausschließen zu können. Wahrscheinlich wäre es nicht zum Tode gekommen, wenn nicht durch die vorzeitigen Nahtsynostosen eine Verengung des Schädels und damit eine zu geringe Ausgleichsmöglichkeit für die Hirnschwellung gegeben gewesen wäre.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Solaninvergiftung durch Genuss von Kartoffeln oder Kartoffelbeeren ist beim Menschen nicht häufig. Leichtere Vergiftungen sind allerdings schon öfter, vor allem in Kasernen vorgekommen. Die in der Literatur angegebenen Symptome: Kopfschmerz, Mattigkeit, Erbrechen, Leibschmerzen usw. stimmen mit unserer Beobachtung überein. Auch bei den häufigen Vergiftungen der Haustiere und experimentellen Untersuchungen stehen cerebrale und gastrointestinale Erscheinungen im Vordergrunde. Die cerebralen Erscheinungen sind durch Hinschwellung bedingt und gehen infolge der raschen Ausscheidung des Solanins bei normalen Schädel-Hirnverhältnis relativ schnell vorüber. Nur wenn, wie in unserem Fall die Schädelkapazität eingeengt oder die Giftdosis sehr groß ist, kann die Hirnschwellung zum Tode führen. Außerdem ist für unseren Fall das akute Ödem verschiedener Organe, Lunge, Leber, Herzmuskel und Nierenrinde charakteristisch.

Literatur:

  • Kobert: Lehrbuch der Intoxikationen, Bd. 2. Stuttgart 1906
  • Leschke: Münch. Med. Wochenschr. 1932. S. 1961
  • Morris: Brit. Med. Journ. 1859, S. 719
  • Perles: Über Solanin und Solanidin. Med. Inaug. Diss. München 1890
  • Perles: Arch. exp. Path. u. Pharmak. 26. 1890. S. 88
  • Petri, E.: Handb. d. Path. v. Henke-Lubarsch. Bd. 10. 1930

Anschrift des Verfassers: Dozent Dr. med. habil. A. Terbrüggen, Greifswald, Patholog. Inst. der Univ.

Quelle: Terbrüggen, A.: Tödliche Solanin-Vergiftung durch den Genuss von Kartoffelbeeren. Sammlung von Vergiftungsfällen, A 610, Band 7, S. 101 - 104, 1936.

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Stand: 31. Oktober 2007

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