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Lorchel-(Morchel-)Vergiftung. Bericht von R. Gutzeit, Johanniter-Krankenhaus in Neidenburg (Ostpreußen). Es wurden bei drei Personen Lorchelvergiftungen beobachtet; in allen drei Fällen waren die Pilze an Stelle der ungiftigen Morcheln gegessen worden. Die Vergiftungen verliefen folgendermaßen: Die 19jährige Ida S. hatte am 16. Mai 1929 zum Mittag- und Abendbrot von den Pilzen gegessen (abends waren die Pilze aufgewärmt worden). Am selben Abend um 11 Uhr erkrankte sie unter Übelkeit und Erbrechen. Durch ihren Kassenarzt am nächsten Morgen dem Krankenhaus überwiesen, wird eine Magenspülung gemacht, die nur wässerige Flüssigkeit, aber keine Pilzbröckel zutage fördert. Temperatur und Pupillenweite normal, ebenso Puls und Reflexe. Zunächst Einlauf von Tannin. Vom zweitnächsten Tag ab besteht bereits fast völliges Wohlbefinden. Die Leber überragt den Rippenbogen und ist druckempfindlich. Die gelbe Hautfarbe und Urobilinogen im Harn verschwinden wieder am 7. Tag der Erkrankung. Am 10. Tag als geheilt entlassen. Bei der Kritik dieses Falles muss die Frage aufgeworfen werden, ob es sich um eine echte Lorchelvergiftung (Helvellasäure) handelt oder um eine Zersetzung der bereits vorher zubereiteten und für den Abend wieder aufgewärmten Pilze. Für letztere Annahme spricht namentlich die warme Witterung des Monats Mai. Nach der sonst beobachteten Zeit von mehreren Stunden zwischen Aufnahme des Giftes und den ersten Symptomen ist anzunehmen, dass bei dem erst um 11 Uhr abends erkrankten Mädchen die Vergiftung bereits durch die Mittagsmahlzeit erfolgte. Außer den genannten Erscheinungen an der Leber waren solche am Zentralnervensystem nicht zu beobachten. Wesentlich schwerer verliefen die beiden folgenden, mit dem Tode endigenden Fälle: Am 19. Mai 1929 aß die 9jährige Gisela H. mit ihrer ganzen Familie Lorcheln, die man anscheinend für Morcheln gehalten hatte, und am nächsten Tage Suppe davon. Um 9 Uhr abends erbricht das Kind und das Erbrechen dauert trotz Rizinusöl und Darmspülungen an. Am Morgen des 21. Mai erfolgt nach einer Magenspülung die Aufnahme ins Krankenhaus. Bei der Ankunft zeigen tiefe Bewusstlosigkeit, sehr schwacher, unregelmäßiger, frequenter Puls und Temperatursteigerung auf 38,7°, das Gesicht blau verfärbt, Nasenspitze und Extremitäten kühl, Atmung tief und angestrengt. Klonisch-tonische Krämpfe, besonders der Beugemuskulatur an den Fingern. Kochsalzeinläufe und Cardiazol als herzanregende Mittel bleiben erfolglos. Am Nachmittag lösen sich die Krämpfe; es erfolgen unfreiwilliger Urinabgang und Stockung der Atmung mit sogenanntem Cheyne-Stokesschem Typus. Lobelin zur Anregung der Atmung hatte keinen Erfolg mehr und um 8 Uhr abends tritt der Tod unter Erscheinungen der Atmungslähmung ein. Ähnlich verlief die Vergiftung bei dem 8jährigen Bruder Günther H. Er hatte die gleichen Pilzmahlzeiten wie seine Schwester genommen und erkrankte etwas später unter denselben Erscheinungen. Er wurde gleichzeitig mit seiner Schwester ins Krankenhaus eingeliefert. Die Temperatur betrug 39,2°, der beschleunigte Puls war zwar unregelmäßig, aber gut fühlbar. Die Pupillen reagierten auf Licht. Die Duodenalsonde konnte nicht mehr eingeführt werden, doch wird ein Esslöffel Rizinusöl noch geschluckt. Den Urin lässt das Kind unter sich. Um 2 Uhr nachmittags beginnen Zuckungen des rechten Armes und der rechten Gesichtsseite, die Pupillenreaktion wird unsicher. Puls 160, tiefe Bewusstlosigkeit. Um 4 Uhr ist allgemeine tonische Starre mit Opisthotonus eingetreten und um 7 Uhr beginnt das bereits bei der Krankengeschichte der Schwester geschilderte allgemeine Lähmungsstadium. Nachdem sich Senfpackungen, Lobelin, Kochsalzeinläufe und künstliche Atmung als wirkungslos erwiesen haben, tritt um 11 Uhr abends der Tod gleichfalls unter den Erscheinungen einer Atmungslähmung ein. Es erscheint als höchstwahrscheinlich, dass in den beiden letzten Fällen die Vergiftung nicht durch die Lorcheln, die durch das Brühen bekanntlich entgiftet werden, sondern erst durch die später genossene Suppe erfolgt ist, da ja die Helvellasäure in das Brühwasser übergeht. Immerhin betrug die Zeit bis zum Ausbruch der ersten Vergiftungserscheinungen 9 Stunden und die schweren Symptome seitens des Zentralnervensystems traten erst nach 12 weiteren Stunden ein. In dieser relativ langen Zeit konnte sich das Gift so stark an die Ganglienzellen verankern, dass eine Loslösung nicht mehr möglich war. Andererseits war eine mechanische Entfernung (Magenspülung, Abführmittel) der Pilzreste infolge der erst spät einsetzenden Vergiftungserscheinungen sehr erschwert. Der Tod erfolgte letzten Endes durch Versagen des Atemzentrums. Eine Leber- oder Nierenschädigung kam nicht zur Beobachtung (Vergleiche hierzu Fälle mit Leberschädigung von Umber u.a. Med. Klinik 1930, Nr. 25, S. 947. – Ferner Manger, Ebenda Nr. 26, S. 960). Wie die beiden letzten Fälle lehren, haben wir es bei der Helvellasäure mit einem schweren Zellgift des Nervensystems zu tun. (Ausführlicher Bericht in „Deutsche medizinische Wochenschr.“ 1929, Nr. 32, S. 1342.) Referent: C. Bachem, Bonn. Quelle: Gutzeit, R.: Lorchel-(Morchel-)Vergiftung, Sammlung von Vergiftungsfällen, Band 1 (1930), A 53, S. 119 - 120 Anmerkung: Bei Bericht handelt es sich um den sehr gefährlichen Pilz Gyromitra esculenta. |
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