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Krankheitserscheinungen und Therapie bei Kreuzotterbissen. Von Ernst Francke. (Aus der II. Medizinischen Klinik, München, Direktor: Prof. Schittenheim.) Seit der Einführung des Schlangengiftserums durch Calmette scheint der Kreuzotterbiss viel von seiner Gefährlichkeit verloren zu haben. Die Ansichten haben sich sogar soweit geändert, dass heutzutage der Kreuzotterbiss fast als harmlos angesehen wird. In alten Statistiken findet man dagegen noch eine hohe Mortalität, die allerdings nicht mit Angaben aus Brasilien und Indien verglichen werden kann. In Deutschland soll die Sterblichkeit nach Vipernbiss 0,8 % bis 10 % betragen. In den Jahren 1883 bis 1892 werden 216 Gebissene mit 14 Toten (6,4 %) angegeben. Nach Rost belief sich in den Jahren 1907 bis 1912 bei 265 Gebissenen die Zahl der Toten auf 6 (2,3 %). Die Statistik des preußischen Landesamtes vom Jahre 1912 bis 1925 weist 17 Todesfälle auf (Otto). Dagegen wurde nach statistischen Angaben aus Preußen in den Jahren 1921 bis 1925 bei etwa 150 Gebissenen nur ein Todesfall bei einem dreijährigen Knaben beobachtet (Rost). Höher liegt die Mortalität anscheinend in Frankreich, wo nach Aufstellungen von Marais innerhalb von 6 Jahren unter 521 Gebissenen 62 Fälle mit tödlichem Ausgang (11,9 %) vorgekommen sind. Auch Fredet berichtet, dass auf 14 Vergiftungsfälle 2 Tote kamen (14,2 %). In Deutschland macht sich demnach ein Rückgang der Todesfälle bemerkbar, was mit der Aufklärung des Publikums uns sicherlich auch mit dem Ausbau der Therapie in Zusammenhang zu bringen ist. Trotzdem findet man bei genauer Durchsicht der Literatur der letzten Jahre immer wieder Meldungen über letalen Ausgang einer Kreuzotterbissvergiftung. Hierbei handelt es sich fast ausschließlich von Mitteilungen einzelner Ärzte, die bei schweren Erscheinungen zugezogen wurden und wo das Gift so schnell resorbiert wurde, dass die Behandlung mit Schlangengiftserum zu spät kam. Klinischer Therapie unterzogen sich meistenteils Patienten, bei denen die Resorption langsamer vonstatten ging, resp. Durch besondere Eingriffe verzögert wurde, oder die die ersten stärkeren Vergiftungserscheinungen bereits überstanden hatten, aber wegen schwerer Allgemeinerkrankung nach behandlungsbedürftig waren. Da die Serumbehandlung in ländlichen Bezirken nicht immer unmittelbar durchzuführen ist, werden Methoden in Anwendung gebracht, die sich aus vergangenen Zeiten erhalten haben. Die ungeheure Zahl der früher üblichen mehr oder weniger geheimnisvollen Mittel und Behandlungsarten legte nicht gerade einberedetes Zeugnis für deren erfolgreiche Wirkung ab. So konnte Fayrer vor Jahrzehnten über diese Therapie noch folgendes sagen: „Würde ein Mensch von einer Schlange gebissen und erfolgt nach Anwendung irgendeines jener vielgerühmten Mittel nicht der Tod, so würde der Patient auch ohne diese Behandlung am Leben geblieben sein.“ Diese Ansicht ist insofern heute nicht mehr aufrecht zu halten, als dem Arzt im Schlangengiftserum ein Mittel gegeben ist, das auch bei schwersten und langdauernden Intoxikationserscheinungen wirksam ist. Zusammenstellungen aus Brasilien z.B. haben gezeigt, dass die Sterblichkeit durch brasilianische Schlangen, welche circa 26 % betrug, durch Serumtherapie auf 4 % und noch darunter herabgesenkt werden konnte. Von den anderen Behandlungsmethoden haben sich nur ganz wenige erhalten können, die in erster Linie stärkere lokale Veränderungen hintanhalten und die Resorption des Giftes verhüten oder verlangsamen sollen. Die Vergiftungserscheinungen haben ihren Grund in der eigenartigen Zusammensetzung des Kreuzottergiftes. Es ist das Sekret der den Speicheldrüsen ähnlich gebauten Giftdrüsen, das außer Eiweiß, Fett Wasser und Salzen das dem sogenannten Ophiotoxin ähnliche Schlangengift enthält. Es gibt viele Schlangengifte, die ja nach der Schlangenart, von der sie stammen, durch die Verschiedenartigkeit ihrer Giftstoffe die mannigfachsten Symptome hervorrufen können. Man kann sie einteilen in solche, die vorwiegend lokal, andere die hauptsächlich allgemein oder resorptiv und solche, die sowohl lokal wie resorptiv wirken. Haemmorhagine und Cytolysine, Cytotoxine und Neurotoxine können in den verschiedenen Schlangengiften vorkommen. Das Kreuzottergift enthält ein „Neurotoxin“, das lähmend auf die Zellen des Zentralnervensystems wirkt. Das „Haemorrhagin“ im Giftstoff der Kreuzotter schädigt die Gefäßendothelien und verursacht dessen Durchlässigkeit. Die umfangreichen Blutungen in die Organe, den Magen-Darmtractus und in die Haut sind durch Veränderungen der Endothelwand bedingt. Neben dem „Haemolysin“, das die roten Blutkörperchen angreift, ruft eine proteolytische Diastase im Kreuzottergift eine Schädigung des Fibrins des Blutes und der Muskeln hervor. Als Letztes hat die „Thrombase“ Einfluss auf das Fibrinferment selbst. Das Gift der Kreuzotter, das bei einmaligem Biss in einer Menge von 0,02 bis 0,1 cm³ ins Gewebe abgegeben wird, hat sowohl lokal, wie resorptiv giftige Wirkung. Schon unmittelbar nach dem Biss treten an der Einstichstelle heftige Schmerzen auf, die zuweilen von völliger Anästhesie gefolgt sein können. Fast gleichzeitig entwickeln sich rasch zunehmende und sich weit verbreitende Schwellungen, die ebenfalls hochgradig schmerzhaft sind. Die Bissstelle selbst verfärbt sich anfangs rot, später livid. Stasen und Blutungen beginnen sich auszubilden. Es kommt zu Veränderungen des Blutfarbstoffes und zu einer Haemolyse. Neben diesen Erscheinungen stellt sich bald eine Lymphangitis und später eine äußerst schmerzhafte Lymphadenitis ein. Im Bereich der Wunde beobachtet man zuweilen Gewebszerstörungen und Nekrosen. Kurze Zeit nach dem Biss machen sich Allgemeinerscheinungen bemerkbar, die auf eine schwere Vergiftung hinweisen, und zwar treten sie um so schneller und heftiger auf, je zentraler die Verletzung liegt. Auch hängt die Gefährlichkeit weitgehend von der Durchblutung der Einstichstelle ab. So sind Bisse ins Gesicht oder in die Brust immer ernster zu bewerten als Bisse in die Extremitäten, zumal ein Abschnüren nur an den Extremitäten möglich ist. Falls bei einem Biss eine Vene angeschnitten wird und das Gift direkt in den Blutkreislauf kommt, ist der Verlauf meist tödlich. Man findet dann keine oder nur auffallend geringe Veränderungen im Bereich des Schlangenbisses. Bei der Unterlassung von resorptionshemmenden Maßnahmen klagen die Kranken bald über Übelkeit, Angstgefühl, Atembeschwerden und zunehmende Schwäche, es stellen sich heftige Kopfschmerzen, Schwindel- und sogar Ohnmachtsanfälle ein. Sehr häufig wird Blut erbrochen, und es kommt zu blutigen Durchfällen. Auch Lähmungen werden immer wieder beobachtet. Bei Verschlimmerung scheint meist eine Lähmung des Atemzentrums die eigentliche Todesursache zu sein, das Herz kann noch minutenlang weiterschlagen. In anderen Fällen soll jedoch akut einsetzende Herzschwäche den Tod herbeigeführt haben. Letaler Ausgang kann innerhalb von 50 Minuten eintreten, wie der Fall des Schlangenbeschwörers Hörselmann beweist, der, von einer Kreuzotter in die Zunge gebissen, nach 50 Minuten starb (Husemann). Meist erfolgt der Tod aber erst nach mehreren Stunden, wobei vorübergehende Bewusstseinsstörungen, Krämpfe, ja sogar schweres Koma vorkommen können. Klinisch stehen im Vordergrund die hochgradige Schwäche und Abgeschlagenheit. Eine Schädigung des Kreislaufs erweist sich durch beschleunigten, unregelmäßigen, kleinen Puls und durch Senkung des Blutdrucks. Ferner zeigen sich Atemstörungen; die oberflächliche und mühsame Atmung führt allmählich zu beträchtlicher Cyanose. Die resorptive Wirkung betrifft in erster Line das Zentralnervensystem, dann periphere motorische Endapparate, die curareähnlich gelähmt werden können. Bei subakutem Verlauf beobachtet man daher Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen und Schluckbeschwerden. Das Respirationsorgan wird bei der Allgemeinwirkung frühzeitig ergriffen, vielleicht ist die curarinartige Schädigung an der Phrenikuslähmung mitbeteiligt. Wie bereits erwähnt, schlägt das Herz nach Eintritt des Atemstillstandes weiter, doch sinkt der Blutdruck bald ab, denn neben dem Herzen werden noch die vasomotorischen Zentren in der Medulla oblongata von der Giftwirkung betroffen. Die Zellschädigungen äußern sich vor allem an den Blutzellen und na den Orten der Giftausscheidung, also am Magendarmkanal und an den Nieren, weil hier eine höhere Giftkonzentration erreicht wird. Die Schlangengifte werden in unveränderter Form durch die Nieren ausgeschieden und erzeugen so Nephritis mit Albuminurie und Hämoglobinurie. Als Frühsymptom werden Nausea und Erbrechen angegeben. Es kommt zu Blutungen aus der Nase, in den Magen und in den Darm. Die Schlangengifte können die Gerinnbarkeit des Blutes in erheblichem Maße beeinflussen, die Koagulation des Blutes kann gefördert und gehemmt werden. Vielleicht ist im Kreuzottergift auch ein Agglutinin vorhanden, das ein Zusammenballen der Blutzellen bewirkt. Was das blutbildende System anbelangt, so reagiert der schwachvergiftete Organismus zunächst mittels seiner Leukozyten. Es entsteht eine Hyperleukozytose, die von einer mehr oder weniger beträchtlichen Temperatursteigerung begleitet ist. Nach einigen Stunden pflegen diese Erscheinungen wieder abzuklingen. Wenn dagegen die aufgenommene Menge Schlangengift genügt, den Tod herbeizuführen, so beobachtet man bald nach dem Biss einen Anfall der Temperatur und das Auftreten einer Hypoleukozytose, ein Symptom, das um so ausgesprochener ist, je mehr die Giftmenge der tödlichen Minimaldosis genähert ist. Es ist wahrscheinlich, dass bei der Vergiftung mit Schlangengift ebenso wie bei der Vergiftung mit bakteriellen Toxinen die schützende Rolle der Leukozyten eine ganz wesentliche ist, und zwar nicht nur deswegen, weil diese Zellen kraft ihrer protoplasmatischen digestiven Säfte imstande sind, die Schlangengifte zu verdauen, sondern auch dadurch, dass sie die wichtigste Stätte darstellen, wo die antitoxischen Substanzen gebildet werden. Als typisches Beispiel unter 15 Vergiftungsfällen, die in den letzten 10 Jahren in den Münchner Krankenhäusern zur Beobachtung kamen, möchte ich eine Frau erwähnen, die 7 Stunden nach der Bissverletzung in die Klinik eingeliefert wurde. Die Wirkung der einzelnen Toxine kam in klassischer Weise zutage. Trotzdem die Bisswunde sofort ausgesaugt und ein Kompressionsverband angelegt worden war, bewirkte die proteolytische Diastase im Gift innerhalb einer halben Stunde Übelkeit und starke Leibschmerzen. Zu Erbrechen und Diarrhoe kam es nicht. Eigenartigerweise schwollen die Lippen und auch die Zunge stark an und an den Lippen bildeten sich Schleimhauteinrisse. In der Magengegend und im Verlauf des Colons war eine deutliche Druckschmerzheftigkeit auszulösen. Im Stuhl konnte okkultes Blut nachgewiesen werden. Der Urinbefund sprach für eine leichte Nephritis, die Eiweißprobe war positiv, im Sediment waren Erythrozyten, Leukozyten und vereinzelt Zylinder vorhanden. Der Rest-N war auf 43 mg% erhöht. Die Urin-Tagesmenge betrug nur 300 cm³. Kurze Zeit nach dem Kreuzotterbiss hatte die Patientin Schluckbeschwerden. Außerdem verlor sie die Fähigkeit, in die Nähe zu sehen und die Augen frei zu bewegen. Ferner bestand heftiges Schwindelgefühl. Die vorübergehenden Lähmungen des Ocullomotorius und des Vagus sind durch das „Neurotoxin“ verursacht. Besonders auffallend war die Wirkung des Giftes an der Bissstelle. Etwa drei Querfinger oberhalb des medialen Knöchels fanden sich am linken Bein zwei ungefähr stecknadelkopfgroße bläulich verfärbte Stichwunden, in deren unmittelbaren Umgebung die Haut anfangs stark anämisch war. Der ganze Unterschenkel, der Fuß und besonders der Fußknöchel waren stark geschwollen. Überall waren kleinere Blutextravasate zu sehen. In der weiteren Umgebung war die Haut livide verfärbt, glatt, glänzend und gespannt. Bis zur Leistenbeuge zog eine äußerst schmerzhafte Lymphangitis und die Inguinaldrüsen waren verdickt und hochgradig druckempfindlich. Auch der Oberschenkel und der Unterbauch wiesen überall kleine Hämorrhagien auf, die sich schneller weiter ausdehnten und stellenweise den Oberschenkel blaurot bis dunkelblau verfärbten. Am nächsten Tage hatte die Schwellung am Bein weiter zugenommen; sie reichte jetzt bis zur linken Unterleibseite über den Mons veneris hinaus. Auch hier waren Blutungen im Unterhautzellgewebe vorhanden, die teils punktförmig waren, teils zu größeren Flecken confluierten. Die heftigen Schmerzen im Bein ließen erst am 3. Tage nach. Dann verschwanden auch die Ödeme allmählich. Der Befund am linken Bein muss auf den Einfluss des Hämorrhagins, des Hämolysins und des proteolytischen Ferments zurückgeführt werden. Auch das Herz und das Gefäßsystem zeigten Folgeerscheinungen der Intoxikation. Es lag ein kollapsähnlicher Zustand vor, der Puls war auf annähernd 100 Schläge in der Minute erhöht, der Blutdruck war relativ niedrig. Im Blutbild waren die Leukozyten auf 18.000 erhöht. Bei der Differenzierung des Blutausstrichs war eine deutliche Linksverschiebung festzustellen.. Die segmentkernigen Neutrophilen waren auf 87 % vermehrt, die stabkernigen Neutrophilen stiegen später sogar auf 13 % an. Eosinophile Zellen wurden nicht gefunden. Leber und Milz schienen nicht vergrößert zu sein, waren aber auffallend druckempfindlich. Die Bilirubinwerte im Serum und im Urin waren normal. Im Vordergrund des klinischen Bildes standen eine hochgradige psychische Erregung und ein schweres Krankheits- und Schwächegefühl, die sich erst am 3. Tage der Behandlung legten. Wie bei allen in München beobachteten Fällen war erst nach Behandlung mit Schlangengiftserum eine deutliche Besserung im Krankheitsbild zu verzeichnen. Trotz Aussaugens der Wunde und Anlegen eines Kompressionsverbandes muss es bei dieser Patientin zu einer sehr schnellen Resorption des Giftes gekommen sein, denn bereits 30 Minuten nach dem Biss sind Augenmuskelstörungen und Schluckbeschwerden aufgetreten. Die Patientin wurde sieben Stunden nach der Verletzung in die Klinik aufgenommen und erhielt gleich 10 cm³ Serum intramuskulär, ohne dass sich eine Wirkung zeigte, vielmehr schien sich das Befinden weiter zu verschlechtern. Trotz reichlicher Gabe von Herzmitteln erholte sich der Kreislauf nicht und wegen zunehmender Beklemmung und Herzangst musste ständig Luminal und Pantopon verabreicht werden. Schlafen konnte die Patientin in der ersten Nacht gar nicht. Am zweiten Tage wurde wegen der offensichtlichen Verschlimmerung ihres Zustandes 20 cm³ Serum intramuskulär gespritzt. Als auch am Abend des zweiten Tages das Krankheitsbild noch besorgniserregend war, erhielt sie wiederum 10 cm³ Serum intramuskulär. Trotz hoher Serummengen und trotz umfangreicher symptomatischer Therapie hatten die Blutungen und die Schwellungen am Bein im Laufe dieses Tages zugenommen. Der Erregungszustand dauerte an und die Patientin klagte immer noch über sehr starke Schmerzen. Erst am dritten Behandlungstage zeigte sich ein Erfolg der Serumtherapie. Die Schmerzen ließen nach, die Ödeme gingen zurück und das Angstgefühl legte sich. Der Urin war jetzt frei von Eiweiß und das Urinsediment war fast normal. Im Blutbild waren die Leukozyten auf 11.650 abgesunken. Im Blutausstrich fand sich noch eine Linksverschiebung mäßigen Grades. In den nächsten Tagen erholte sich die Patientin sehr schnell, so dass sie am achten Tage beschwerdefrei nach Hause entlassen werden konnte. Schon Calmette hat früher an Hand von Tierversuchen darauf hingewiesen, dass bei derselben Tierart und derselben Giftdosis die zur Verhütung der Vergiftung erforderliche Menge des antitoxischen Serums um so größer sein muss, je später der therapeutische Eingriff stattfindet. Er beobachtete, dass die Serummenge, welche bei präventiver Anwendung erforderlich ist, um gegen die zehnfache tödliche Giftdosis zu schützen, doppelt so groß ist als diejenige Menge, die in vitro die zehnfache tödliche Giftdosis unschädlich zu machen vermag. Wenn er Tieren zuerst das Gift injizierte, und zwar in Dosen, welche gleich schwere Kontrolltiere innerhalb 2 – 3 Stunden töteten, und 15 Minuten darauf die Seruminjektion folgen ließ, so konnte er feststellen, dass die lebensrettende Serummenge ungefähr dreimal größer sein musste als diejenige, welche in vitro das Gift neutralisierte. Außerdem zeigte sich, dass die curative Serumdosis, die für ein mit Schlangegift vergiftetes Tier erforderlich ist, im umgekehrten proportionalen Verhältnis zu seinem Körpergewicht stand. Sehr instruktiv waren Versuche von Guerin, der einem Hund nach Verabreichung von 9 mg Schlangengift (eine Dosis, welche gleich schwere Kontrolltiere sicher in 5 – 7 Stunden tötet) am Leben erhalten konnte, wenn er ihm 2 Stunden nach der Giftinokulation subkutan 10 cm³ Serum injizierte. Fand die Behandlung dagegen erst 3 Stunden nach der Vergiftung statt, so mussten dem Tiere, wenn ein tödlicher Ausgang verhindert werden sollte, 20 cm³ Serum, also die doppelte Dosis, gegeben werden. Jenseits dieser Frist ist der Tod unabwendbar, weil die Zentren der Medulla oblongata ergriffen werden und die Lähmung der Respirationsmuskeln sich geltend zu machen beginnt. Beim Menschen liegen die Verhältnisse sicher ähnlich, doch muss man wohl annehmen, dass es sich nicht in derselben kurzen Zeit schon zu Lähmungen lebenswichtiger Zentren des Zentralnervensystems kommt. Man wird daher, wie in dem geschilderten Fall, auf die Höhe der Vergiftung zur Serumtherapie greifen und zwar wird man Mengen geben müssen, die die übliche Dosis um ein Vielfaches überschreiten, falls die Behandlung erst spät eingeleitet werden kann. Wenn man auch in der Literatur der letzten Jahre Angaben findet, wonach der Kreuzotterbiss kaum tödlich sein soll und die Intoxikationserscheinungen auch ohne wesentliche Behandlung nach einiger Zeit zum Abklingen kommen sollen, so wird man immer durch möglichst frühzeitige Behandlung mit Schlangengiftserum die heftigen subjektiven Beschwerden erheblich mildern und besonders die Krankheitsdauer abkürzen können. Auch bei der therapeutischen Beeinflussung der lokalen Erscheinungen ist das Schlangengiftserum von einer gewissen Bedeutung. In den ersten Stunden nach der Verletzung stehen die Schmerzen und die Vergiftungsfolgen an der Bissstelle im Vordergrund. Aus vergangenen Zeiten haben sich eine Unmenge von Methoden erhalten, die die heftigen Schmerzen lindern und die Diffusion des in der Wunde deponierten Giftes ins Bindegewebe und die Resorption ins Gefäßsystem verhindern resp. verzögern sollten. Die meisten haben allerdings nur noch historisches Interesse. Der Versuch, das im Körper schon resorbierte und unveränderte Gift auf chemischem Wege in eine für den Organismus unschädliche Verbindung überzuführen, hat in den Jahren vor der Entdeckung des Schlangengiftserums viele Forscher beschäftigt. Durch verschiedene, besonders oxydierende Stoffe versucht man eine Zerstörung des Giftes im Gewebe herbeizuführen. Man hat mit Chlorwasser, Chlorkalk, Chromsäure und vielen anderen Lösungen das verletzte Gewebe infiltriert. Das Auftreten schwerer Nekrosen durch die ätzenden Mittel war meist die unerwünschte Folge. Als einzige hat sich bis heute eine 1 – 2 %ige Lösung von Kalium permanganicum bewährt, die keinerlei Veränderungen der Haut und des Unterhautzellgewebes hervorruft. Von guter Wirkung gegen die schnelle Resorption und auch gegen die Schmerzen sind Adrenalininjektionen mit Novocainzusatz. Die beste Methode ist aber sicher die Infiltration des verletzten Gewebes mit Schlangengiftserum. Als zweifellos zweckmäßig und wirkungsvoll hat sich das sofortige Umschnüren der verletzten Extremität dicht oberhalb der Bissstelle erwiesen. Neben dem Aussagen der Wunde ist es der einzige Eingriff, der sich gleich an Ort und Stelle ohne große Vorbereitungen durchführen lässt. Da man durch einen kräftigen Kompressionsverband, der möglichst keine völlige Blutleere aufkommen lässt, den Einbruch größerer Giftmengen in die Blutbahn hintanhalten kann, sollte man besonders bei weiterer Entfernung eines Arztes oder der nächsten Klinik nie darauf verzichten. Von einigen Autoren wird noch ein Kompressionsverband unterhalb der Bissstelle und von anderen eine intermittierende Kompression empfohlen. Länger als 2 Stunden soll eine Ligatur möglichst nicht unterhalten werden, da sich sonst irreparable Zirkulationsstörungen einstellen können. Man kann die Abschnürung von Zeit zu Zeit aufheben, muss dabei aber bedenken, dass toxinhaltiges Blut sofort in den Kreislauf kommt und Vergiftungserscheinungen auslöst. Bei sehr starken Beschwerden an der Abschnürungsstelle wäre es ratsam, den Kompressionsverband von Zeit zu Zeit etwas weiter zentralwärts anzulegen. Nach Möglichkeit soll der Kompressionsverband die Diffusion und Resorption der Toxine in die Blutbahn so lange verhindern, bis eine sachgemäße Zerstörung resp. Entgiftung der Toxine in der Wunde erfolgen kann. Ebenfalls allgemein üblich ist das sofortige Aussaugen der Wunde. Man wird die Zweckmäßigkeit nicht ganz ablehnen können, muss sich aber klar sein, dass man mit dem Aussaugen nur geringe Mengen des wenigen, ziemlich tief in das Unterhautzellgewebe deponierten Giftes entfernen kann. Auch soll die Methode für den Helfer nicht ungefährlich sein. Wirksamer und geeigneter ist zweifellos eine chirurgische Behandlung der Bissstelle, sei es durch Inzision oder durch Exzision der Wunde. Früher hat man die Bissstelle mit glühenden Nadeln, ja sogar mit brennenden Zigarren und mit explodierendem Schießpulver traktiert. Jetzt ist ein Verfahren von Fock angegeben, der zwei tiefe Inzisionen parallel der Verbindungslinie beider Stichwunden mit einem Rasiermesser legt und dadurch eine kräftige Durchblutung und Ausschwemmung erreicht. Gleichzeitig wird die Resorption der Toxine aus den Stichkanälen unterbunden. Fock meint, dass man jetzt mit kräftigem Saugen fast alles Gift entfernen kann. Er rät außerdem, noch zurückgebliebene Toxine durch Einspritzen einer weinroten, d.h. stark verdünnten Kaliumpermanganatlösung unschädlich zu machen. Nach dieser Infiltration kann sogar die Umschnürung gelöst werden. Er empfiehlt ein kleines Schlangen besteck, das eine Pravazsche Spritze, ein Röhrchen mit Kaliumpermanganat und eine Rasierklinge enthält. Neben der Exzision der ganzen Wunde wird heute mehr und mehr die Kauterisation geübt. Früher hat man den Kranken immer viel Alkohol zu trinken gegeben. Heute steht man auf dem Standpunkt, dass jeder Alkoholgenuss nach Schlangenbiss schädlich ist, auch soll durch größere Alkoholmengen die Serumwirkung aufgehoben werden. Im Tierversuch wurde jedenfalls nie eine Besserung durch Alkoholgaben erzielt, und es wird berichtet, dass beim Menschen in vielen Fällen der Tod nicht durch Schlangengift, sondern durch Alkoholintoxikation zustande gekommen sei. Besonders bei Kindern ist Alkohol kontraindiziert. Eine gewisse Resistenzsteigerung des Organismus durch den Alkohol kann nicht abgelehnt werden. Nach Werwarth soll die Wirkung des Alkohols in einer lokal entzündlichen Reizung und einer damit verbundenen Hyperämie der Schleimhaut liegen, wodurch die Ausscheidung des Giftes in den Magen gefördert wird. So schlägt Alt bei Schlangenbissen wiederholte Magenspülungen vor , durch die er im Tierversuch gute Erfolge sah. Dem steht entgegen, dass das Gift vom Magen aus gar nicht resorbiert werden soll. Die Giftwirkung auf Atmung und Kreislauf wird man mit den üblichen Mitteln entgegentreten müssen. Coffein und Lobelin kann man wegen der stark erregenden Wirkung auf das Atemzentrum verwenden. Ebenso zweckmäßig ist Kampfer mit seinem günstigen Einfluss auf die Funktionszentren des verlängerten Marks, auf die Atmungs- und Kreislaufregulation. Neben Kampfer stehen Präparate wie Cardiazol, Coramin und Icoral im Vordergrund der Behandlung des Kollaps nach Kreuzotterbiss. Da nachweislich das Gift durch die Drüsen, durch den Magendarmtractus und durch die Nieren ausgeschieden wird, hat Pilocarpin als sekretionssteigerndes Mittel eine gewisse Bedeutung. Die Ausscheidung des Giftes lässt sich ferner durch Flüssigkeitszufuhr in Form von Kaffee und Tee in größeren Mengen und durch große Infusionen steriler Lösungen beschleunigen. Bei Blutungen in die Haut, in den Magendarmtractus und in die inneren Organe wird man zu den Hämostyptica wie Calcium, Clauden, Coagulen und Afenil greifen müssen. Stellt sich trotzdem ein komatöses Zustandsbild ein, so haben neben Excitantien zuweilen kalte Übergießungen im warmen Bad Erfolg. Bei Aufregungszuständen und Krämpfen sind Bromkalium und Chloralhydrat angezeigt, während man bei Brustbeklemmungen und Herzangst auf Morphinpräparate nicht verzichten soll. Zusammenfassung: Das Souveräne Mittel bei Kreuzotterbissvergiftung ist das Schlangengiftserum der I.G.-Farbenindustrie, Behringwerke, Marburg. Bei Vergiftungen, die schon einige Stunden bestehen, müssen die Serumdosen erheblich erhöht werden, um eine sichere Wirkung zu erzielen. Es ist daher erforderlich, dass in Kreuzottergegenden das Schlangengiftserum in möglichst vielen Apotheken in ausreichender Menge vorrätig gehalten wird. Es empfiehlt sich, bei Schlangenbissverletzungen sofort einen Kompressionsverband dicht oberhalb der Bissstelle anzulegen und durch Inzisionen und den dadurch hervorgerufenen Blutstrom ein Herausschwemmen des Giftes in die Wege zu leiten. Ferner ist das Infiltrieren der Bissstelle mit einer Kaliumpermanganatlösung von 1 - 2 %, besser noch mit Schlangengiftserum von guter Wirkung auf die lokalen Vergiftungserscheinungen. Größere Alkoholgaben sind zu vermeiden; bei Kindern ist Alkohol in jeder Form kontraindiziert. Literatur:
Anschrift des Verfassers: Dr. Ernst Francke, München 2 SW, Ziemssenstr. 1, Krankenhaus li. der Isar, II. Medizin. Univ.-Klinik Quelle: Francke, E.: Krankheitserscheinungen und Therapie bei Kreuzotterbissen. Sammlung Vergiftungsfälle, Band 8, C 36, S. 1 - 12, 1937 |
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