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Tollkirschen-Vergiftung (Selbstmordversuch) Bericht von H. Josephy, Psychiatrische und Universitätsnervenklinik und Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg Am 13. September 1926 wurde in der Staatskrankenanstalt (Irrenanstalt) Freidrichsberg ein etwa 20jähriges Mädchen eingeliefert, das in der Nähe von Hamburg in verwirrten Zustand aufgefunden war. Die körperliche Untersuchung zeigte als wesentlichen Befund sehr weite, etwas differente Sehlöcher, die auf Licht nicht reagierten. Ob sie sich auf Nahesehen verengerten, war nicht festzustellen. Psychisch war die Kranke vollkommen verwirrt, sie suchte im Bett nach Zehnpfennigstücken, sie zupfte auf ihrer Bettdecke herum und redete leise vor sich hin; dabei knüpfte sie vielfach an das an, was sie zufällig hörte. Zwischendurch war sie zu fixieren und gab ihren Namen und ihr Alter richtig an; sie erzählte, sie sei nach Trittau, einem bei Hamburg liegenden Ort gefahren, sie könne lange Märsche machen, sie würde so leicht nicht müde, so einsam sei es ja auch dort nicht, wenigstens abends nicht. „Am Tage ist es noch immer hell, da wird man dort nicht so leicht überfallen. Der Chauffeur hat ja auch nicht immer die Schuld.“ Dann wieder saß sie plötzlich auf, versuchte etwas zu greifen. „Das Wasser ist ja schon alles verkocht, das kann ja gar nicht mehr kochen.“ „Wir wollten da oben schlafen, wir haben uns gezankt; ich will aber keinen damit rein reißen.“ Erst am 4. Tage ihrer Aufnahme wurde sie ruhiger und klarer. Sie erzählte, sie sei nach Trittau gefahren und habe nachts nach Hamburg gehen wollen. Sie machte klare Angaben über einen Mann, der hinter ihr hergewesen sein sei; sie sei durch einen Busch gekrochen und habe sich dabei verletzt. Eine weitere Klärung war erst 10 Tage später zu erreichen. Die Kranke war inzwischen völlig klar und besonnen geworden. Sie gab an, sie hätte sich im botanischen Garten Beeren gepflückt von einem Strauch, an dem „sehr giftig“ gestanden hätte und der „Cordelacea“ oder so ähnlich geheißen hätte; sechs Stück hätte sie etwa gegessen, um sich das Leben zu nehmen. Nach dem Essen hatte sie zunächst gar nichts gemerkt, sie sei die Nacht über spazieren gegangen, habe aber noch in einem Lokal Milch getrunken; sie sei bis gegen ½5 Uhr morgens herumgelaufen, dann sei ihr gewesen, als wenn sie etwas getrunken hätte; sie habe mit einmal ihre Sachen aus der Hand verloren, sie sei immer wieder hingefallen; dann wisse sie von nichts mehr. Es sei ihr so, als wenn sie geträumt hätte, sie führe in einem Auto oder einem Zug und habe da einen Mann mit einem blauen Anzug gesehen (das bezieht sich offenbar auf den Transport ins Krankenhaus). Hier im Krankenhaus hätte sie Leute vor dem Fenster gesehen, die tanzten; das waren ihre Verwandten; auch Polizisten waren dazwischen. Es wäre noch etwas gewesen und sie wüsste nicht, ob sie das geträumt hätte oder ob es stimmte; als ihr so schlecht geworden war, sei ein Kerl, ein Landstreicher gekommen, der hätte ihr etwas tun wollen; sie hätte laut um Hilfe geschrieen. Die Sehlöcher waren noch am 25. September, also 13 Tage nach der Einlieferung, lichtstarr; 8 Tage später war noch eine Ungleichmäßigkeit angedeutet, die Lichtreaktion hatte sich aber wieder hergestellt. Eine Aufklärung des Falles war möglich durch die liebenswürdige Bemühung des Herrn Prof. Irmscher vom Institut für allgemeine Botanik. Wir schickten die Patientin in den botanischen Garten, wo sie direkt aus „Atropa Belladonna“, die Tollkirsche, losging. Hier befindet sich ein Schild „Sehr giftig“, daneben steht eine Anschrift „Scopolia carniolica“; den zweiten Namen hatte die Kranke behalten und verstümmelt wiedergegeben. Der Fall ist in verschiedener Hinsicht interessant. Er zeigt zunächst, dass auch innerhalb der Großstadt und in einem Gebiet, in dem die Tollkirsche selten ist, Vergiftungen vorkommen können. Sie sind, wenn eine Vorgeschichte fehlt, kaum zu diagnostizieren. Ich hatte in diesem Falle auf Grund der lichtstarren Pupillen zunächst an eine juvenile Paralyse mit einem Verwirrtheitszustande gedacht, eine Diagnose, die durch das Ergebnis der Blutuntersuchung und der Lumbalpunktion hinfällig wurde. Symptomatologisch zeigte der Fall das typische Bild eines Deliriums mit phantastischen Sinnestäuschungen. Interessant ist, dass ein gewisser Konnex mit der Wirklichkeit trotzdem erhalten blieb und dass nachher in der Erinnerung Erlebtes und Geträumtes nicht auseinander gehalten werden konnte. Von Interesse ist weiterhin die lange Dauer der Pupillenstörungen, die etwa 14 Tage lang bestehen blieben. Auch forensisch war der Fall nicht ohne Bedeutung. Die verworrenen Angaben des Mädchens, das an den Armen und an der Brust Kratzstellen aufwies, ließen an ein Sittendelikt denken. Es wurden auch entsprechende polizeiliche Ermittlungen angestellt, die aber negativ verliefen. Es fanden sich auch keine sonstigen Anhaltspunkte in dieser Richtung. Die Kratzwunden hatte sich das Mädchen offenbar beim Umherirren und beim Durchkriechen durch Gebüsche zugezogen, woran sie auch noch eine dunkle Erinnerung hatte. Im übrigen handelte es sich um eine hysterische Persönlichkeit, die schon mehrmals theatralische Selbstmordversuche gemacht hatte. Der Fall ist bereits kurz beschrieben von Meggendorfer im Handbuch der Geisteskrankheiten, herausgegeben von Bumke, Kapitel: Intoxikationspsychosen, Bd. VII, S. 380, Berlin 1928. Quelle: Josephy, H.: Tollkirschen-Vergiftung (Selbstmordversuch), Sammlung von Vergiftungsfällen, Band 1 (1930), A 19, S. 45 - 46 |
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