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Intox Atropa05
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Toedliche Tollkirschen-Vergiftung.

Von O. Wiegand.

(Institut für gerichtl. u. soziale Medizin Marburg. Direktor: Prof. Dr. Schrader)

In einer Heil- und Pflegeanstalt starb am 12. September 1935 der 37 Jahre alte Patient G. R. an den Folgen reichlichen Genusses von Tollkirschen.

Der Kranke, seit September 1913 Insasse jener Anstalt, litt an Schizophrenie und wurde, da es sich um einen sogenannten schizophrenen Endzustand handelte, schon 15 Jahre lang im Außendienst beschäftigt. Seit dem 5.9.1935 war er mit 14 anderen Patienten im Walde beim Holzladen tätig. Von dem Pfleger, der G. R. als einen der zuverlässigsten Arbeiter schilderte, waren die Kranken wiederholt auf die am Wege stehenden Tollkirschenpflanzen und -beeren aufmerksam gemacht und vor deren Genuss eindringlich gewarnt worden. Am 11.9.1935, als die Patienten nach dem Mittagessen ihre Arbeit wieder aufnahmen, fiel auf, dass R. taumelte, beim Sprechen lallte und einen verwirrten Eindruck machte. Aus den Äußerungen eines anderen Kranken entnahm der Pfleger, dass R. Tollkirschen genossen hatte und veranlasste die sofortige Überführung in die Anstalt. Der Kranke war beim Eintreffen im Lazarett schon bewusstlos. Das Gesicht war etwas gerötet, die Pupillen maximal erweitert, Mund und Rachenschleimhaut fast völlig trocken, Puls und Atmung normal. Auf eine Spritze Apomorphin trat nach etwa 15 Minuten der gewünschte Erfolg ein. Er erbrach reichlich Speisebrei, untermischt mit massenhaft kirschenähnlichen Gebilden, die z. T. zerkaut, z. T. noch unversehrt waren. Auf eine anschließende Magenspülung wurden ebenfalls noch reichlich Speisebrei und Tollkirschen (schätzungsweise 750 g) entleert.

Behandlung: Kaffee, Kohle, Natrium-bicarbonicum, Rhizinusöl.

Am Abend lag der Patient immer noch bewusstlos und ruhig atmend; kräftiger regelmäßiger Puls (90 pro Min.), der sich bis zum 12.9. morgens 6 Uhr hielt. Dann trat ein nur minutenlanger Erregungszustand mit krampfartigen Zuckungen auf, dem sofort der Exitus letalis folgte.

Bei der gerichtlichen Sektion, die am 13.9.1935 ausgeführt wurde,  konnte kurz zusammengefasst folgender Befund erhoben werden:

Äußere Besichtigung: Magere männliche Leiche, Totenstarre über sämtlichen Gelenken, Haut blass-gelblich, bis auf Hals- und Gesichtshaut, die ein blau-rotes Aussehen zeigte. Diese Rötung reichte bis zu den beiden Schlüsselbeinen und verlief circulär nach hinten bis in Höhe des 1. Brustwirbels. (Diese Erscheinung soll schon während des komatösen Zustandes bestanden haben.) Totenflecke sonst spärlich, von blassroter Farbe, Pupillen mittelweit.

Innere Besichtigung: Beim Abpräparieren der Haut von den Weichteilen des Halses fiel sofort eine große Blutfülle der Haut, der darunter liegenden Weichteile und sämtlicher Halsgefäße auf, bei deren Einschneiden sich reichlich dunkelrotes flüssiges Blut entleerte. Im Herzen und den großen Körpergefäßen nur flüssiges Blut. Nirgends konnten trotz sorgfältigster Nachsuche Blutgerinnsel gefunden werden. Außer einer Pharyngitis, Bronchitis und einigen kleinen herdförmigen broncho-pneumonischen Herden kannte makroskopisch sonst kein pathologischer Befund an inneren Organen erhoben werden. Mikroskopisch fand sich nur an beiden Nieren geringe herdförmige Verfettung umschriebener Bezirke der Tubuli contorti und Stauung im Rindengebiet, ein Befund, der wohl sicher als Folge der akuten Intoxikation zu werten ist.

Selbstverständlich wurden trotz der klaren Ätiologie die erforderlichen Organe und Körperflüssigkeiten, sowie die im Magendarmkanal gefundenen Beerenreste und Samen asserviert und einer chemischen und biologischen Untersuchung unterzogen. Wie vorauszusehen konnte denn auch in allen Teilen Atropin einwandfrei nachgewiesen werden.

Dieser Fall ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert: Der Kranke kann nach den zuverlässigen Angaben des Pflegers erst kurz vor der Mittagsmahlzeit die Tollkirschen gegessen haben, so dass bis zum Eintreten der ersten sichtbaren Vergiftungserscheinungen ca. 1¼ Stunde vergangen ist. Vor allem auffallend, dass R. noch anschließend sein Mittagsbrot in Gestalt von Nudeln und Backobst gegessen hat und dass es spontan überhaupt nicht zum Erbrechen gekommen ist. Das dann schnelle und intensive Eintreten der Vergiftung ist natürlich durch die ungeheuer große Menge der Tollkirschenfrüchte (ca. 1 kg) zu erklären. Die Resorption des Atropins hat sich wahrscheinlich dann dermaßen überstürzt, dass auf die Prodrome: taumelnder Gang, Verwirrtheit, Sprachstörungen, Mydriasis sofort tiefe Bewusstlosigkeit folgte. Zeichen eines rauschartigen, ja tobsüchtigen Zustandes mit heiteren Delirien, die sonst bei Tollkirschenvergiftungen beschrieben wurden, konnten nicht festgestellt werden. Ebenso wurde die sonst für Atropinvergiftung charakteristische scharlachrote Haut (bis auf blaurötliche Verfärbung des Gesichtes und Halses) nicht beobachtet. Die Pulszahl von 90 p. Min. kann auch nicht als abnorm hoch bezeichnet werden. Vorwiegend wurde also dieses Krankheitsbild nur von den paralytischen Erscheinungen beherrscht.

Die Sektion selbst zeigte in diesem Fall kaum einen diagnostisch verwertbaren Befund. Die Mydriasis war nicht mehr vorhanden. Vielleicht imponierte nur die Rötung des Gesichtes und des Halses mit der enormen Blutfülle der zugehörigen Gefäße. Ausschlaggebend war jedoch das Vorhandensein von Resten der Atropabeeren und ihrer Samen im Magendarmkanal, ein Befund, der in einem Fall unklarer Ätiologie sicher den rechten Weg gewiesen hätte.

Der Nachweis einer Tollkirschenvergiftung ist nur durch Abscheidung des Alkaloids aus den Leichenteilen und durch den chemischen und biologischen Nachweis zu erbringen. Da sich das Atropin durch große Widerstandskraft gegen Fäulnis auszeichnet, ist es auch noch in Leichen nachweisbar, die vielleicht durch besondere Umstände erst nach Monaten zur Sektion gelangen.

Literatur:

  • Kratter: Ztschr. f. gerichtl. Medizin, 1886. Sammlung v. Vergiftungsfällen, Bd. 1 A 55, A 56. Bd. 2 A 141. Bd. 3 A 247. Bd. 5 A 424

  • Hofmann - Haberda: Lehrb. d. gerichtl. Med.

  • Starkenstein - Rost - Pohl: Toxikologie

  • Authenrieth: Auffindung der Gifte

Anschrift des Verfassers: Dr. O. Wiegand, Marburg (Lahn), Institut f. gerichtliche u. soziale Medizin der Univ., Lahnstr. 9

Quelle: Wiegand, O.: Tödliche Tollkirschen-Vergiftung. Sammlung von Vergiftungsfällen, A 606, Band 7, S. 95 - 96, 1936

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Stand: 31. Oktober 2007

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