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Atropin-Vergiftung durch Genuss von Fleisch eines vergifteten Tieres Bericht von S. Loewe, Mannheim, s. t. Göttingen. Die Vergiftung am 10. April 1919 leitete sich von dem Genuss eines Versuchskaninchens her, das etwa 1 Stunde nach subkutaner Injektion von 0,1 g Atropinsulfat pro Kilogramm Tier geschlachtet worden war. Die Vergifteten (I: männlich, 34 Jahre; II: weiblich, 25 Jahre; III: weiblich, 37 Jahre; IV: Black-and-tan-Terrier) hatten sämtlich verhältnismäßig wenig von dem Fleisch des gebratenen Kaninchen genossen, am meisten I, auf den beiläufig etwa 0,01 g Atropin entfallen sein dürfte. Schon unmittelbar nach dem Mittagsmahl fiel den Beteiligten auf, dass der Kuchen trotz der Anfeuchtung mit Tee sandig schmeckte und „schwer herunterging“. Etwa 1 Stunde nach dem Mittagessen wurde zunehmendes Umnebelungsgefühl empfunden, bis dann die Entdeckung der weiten Pupillen vor dem Spiegel die Ursache des ganzen Zustandes aufdeckte. Da sich die Ungefährlichkeit der aufgenommenen Dosis errechnen ließ, wurden vorerst keinerlei Gegenmaßnahmen unternommen. Pat. I war während der nächsten 6 Stunden hauptsächlich von der Akkomodationsstörung, den Schluckbeschwerden und dem Trockenheitsgefühl im Halse belästigt. Er konnte sich aber fortwährend klar und geordnet unterhalten, auf einem langen Spaziergang eine Besprechung führen und sich dann auch in einer größeren Gesellschaft, von der Pupillenveränderung abgesehen, recht unauffällig bewegen. Nur die Bewegungsfunktionen waren beeinträchtigt; intendierte Bewegungen konnten nicht ganz absichtsgemäß ausgeführt werden. Pat. konnte z.B. auf der Strasse „die Ecken nicht ganz richtig nehmen“, trat beim Gehen am Randstein häufig daneben, vermochte auch beim Hervorholen und Anzünden einer Zigarette erst nach einigem Vorbeigreifen zum Ziele zu gelangen. Eine ähnliche Intentionsstörung zeigte sich auch in der Mimik. Sie fiel der Umgebung vor allem in überstarken Lachbewegungen auf, die bei Erörterung heiterer Themen weit über das gewollte Maß hinaus Platz griffen. Ähnliches trat auch in den sprachlichen Äußerungen zutage; beabsichtigte Sätze kamen nicht immer ungestört heraus, es bedurfte einiger Anläufe, auch dann häufig Stottern. Die Sprache klang mitunter mutierend. Patient machte den Eindruck eines leicht Betrunkenen und erregte selbst beim eingeweihten Beobachter häufig dementsprechende Heiterkeit. Auch bei der Rückkehr nach Hause, etwa 6 Stunden nach dem Mittagsmahl, im wesentlichen unveränderter Zustand; es fehlte jedes allgemeine Krankheitsgefühl und jede subjektive Besorgnis über den eigenen Zustand, der in heiterer Stimmung hingenommen und nur wegen der Seh- und Sekretionsstörungen und etwa noch wegen des Appetitmangels unangenehm empfunden wurde. Aufnahme eines kleinen Abendessens gelang unter Schwierigkeiten und Widerstreben. Ungefähr mit Einbruch der Dämmerung stellten sich bei weitgehend klarem Bewusstsein und sonst recht vollkommener Kritik Gesichtshalluzinationen ein. Patient sah an einer vor ihm stehenden Person ein etwa 5 cm langes, großes, flügelloses Insekt sitzen, das er verscheuchen versuchte und das dann auch davonflog. Derartige Halluzinationen mehrten sich allmählich, ohne psychisch besonders verwertet zu werden. Sie wurden hauptsächlich in dunkle Ecken des Zimmers oder auch an die Grenze zwischen hell beleuchteten und im Dunkel liegende Stellen projiziert. Dort wurden einige Male auch Mäuse gesehen, vor allem aber eigentümlich bewegte Gegenstände; z.B. schien der Ofen an seinen Konturen mit Reihen von langen Bändern besetzt, die nach Art von im Winde flatternden Wimpeln zu flottieren schienen. Alle diese Halluzinationen schwanden, als der Raum hell beleuchtet wurde und traten auch später nicht mehr auf, als der Patient dann in der Sitzung einer medizinischen Gesellschaft vorgestellt wurde (Kurzer Bericht z.B. in Med. Klein. 1919, S. 724). Er konnte zwar nicht selbst das Wort ergreifen, doch ließen sich außer der Pupillenstörung und leichtesten Bewegungsstörungen keine Besonderheiten an ihm demonstrieren. Patient konnte sich auch mit der durch die Intentionsstörungen auferlegten Vorsicht geordnet bewegen, allerdings konnte er sich nicht auf die Vorträge konzentrieren und nahm daher kein scharfes Erinnerungsbild an diese mit. Nach Hause zurückgekehrt, zeigte er eine gewisse Verwirrtheit; er halluzinierte wieder und sprach infolgedessen zuweilen unverständlich und zusammenhanglos. Doch war der Schlaf gut. Am nächsten Morgen außer Akkommodationsstörungen und Beeinträchtigung der Sprache und der Bewegungen keine Erscheinungen mehr. Trockenheit des Halses und Schlickstörungen bedeutend herabgesetzt, Nahrungsaufnahme, Darm- und Sexualfunktion normal. Der erwähnte Rest der Erscheinungen hielt allerdings noch mehrere Tage an. Physostigmineinträufelung ins Auge am Morgen nach der Vergiftung bewirkte z.B. nur recht vorübergehende Behebung der Sehstörung. Eine gewisse Unfähigkeit, sich zu fixieren, und eine leichte Unruhe hielten noch einige Tage nach, am längsten ein gewisses Unbehaglichkeitsgefühl, wie etwa in der Rekonvaleszens nach einer schwächenden Krankheit, das erst nach einer Woche verschwand. Patient II zeigte trotz merklich geringerer Dosis zeitweise wesentlich schwerere Erscheinungen. Zwar ging auch diese Patientin zunächst ihrer gewohnten Tätigkeit nach. Doch konnte sie sich etwa 3 Stunden nach der Atropinmahlzeit an einem Laboratoriumsversuch nicht mehr beteiligen, zog sich in einen anderen Raum zurück und da sie wegen starker Bewegungsunruhe, Schwindelgefühl und Unbehaglichkeit nicht mehr sitzen konnte, legte sie sich auf den Boden. Bald traten Zuckungen in den Beinen auf und etwa ½ Stunde später wurde die Patientin in leichten Krämpfen liegend aufgefunden. Die Krämpfe zeigten sich objektiv in ganz regelmäßigen, von Pausen unterbrochenen, an den verschiedensten Körperteilen auftretenden Zuckungen, subjektiv wurden sie als „Rucken“ in den betreffenden Muskelgebieten sehr unangenehm empfunden. In dieser Phase beherrschte die Patientin zunächst starkes Krankheitsgefühl, Herzklopfen, auch Angst wegen etwaiger Lebensgefahr, als sie dann aber von Ärzten mit Pulsbeschleunigung und geröteten Gesicht aufgefunden und aufgerichtet war, hob sich das subjektive Befinden und die Stimmung bis zum Übergang in stark euphorische Heiterkeit, Albernheit, Lachlust. Dabei blies sich die Patientin Tierkohle ins Gesicht, von der ihr 1 Esslöffel zur Entgiftung verabreicht wurde. Nach Hause verbracht, behielt die Patientin die im wesentlichen heitere Stimmung. Auffassungsstörung für Vorgänge in der Umgebung, vergnügte Apathie. In diesem Zustand verbrachte die Patientin den Abend auf einem Liegestuhl, empfing Besuch, zeigte wie Patient I Vorbeigreifen z.B. beim Zigarettenanzünden, halluzinierte große dunkelblaue Farbflecke, weiße Kristallmassen, z.B. einen große Haufen Kochsalz beim Zubettegehen auf dem Kopfkissen. Appetitlosigkeit. Die Patientin konnte sich nicht ohne Hilfe zur Nacht aus- und ankleiden, konnte eine eintreffende briefliche Nachricht zwar einigermaßen lesen, aber inhaltlich nicht aufnehmen. Verfiel jedoch bald in Schlaf, der bis zum Morgen ununterbrochen währte. Zustand am nächsten Tage wie bei Patient I, nur Sprach- und Bewegungsstörungen geringer. Auch das Abklingen der Erscheinungen verlief wie bei Patient I. Patient III legte sich bald nach dem Mahle wegen allgemeinem Übelbefinden nieder, fiel dann mehrfach aus dem Bett, wurde am späteren Nachmittag aus dem Bett geholt und vermochte die Hausarbeiten, freilich nur unter Aufsicht und Beihilfe auszuführen. Verwechselte z.B. Zucker und Salz, ließ viel Geschirr fallen, legte sich zwischendurch wieder nieder. Besonders auffallende Sprachstörungen. Patientin ohnedies schwer verständliches Platt sprechend, wurde nahezu unverständlich. War gleichfalls am nächsten Tage noch bewegungsgestört, ungeschickt, ließ das Hausgerät noch oft fallen, erholte sich aber schneller als Patient I und II. Der Hund (Patient IV) hatte weite Pupillen, lief in starker Unruhe herum, wobei die Bewegungsstörungen doppelt auffielen und deutlich an offensichtlich unzweckmäßiger Ausführung beabsichtigter Bewegungen erkennbar wurden. Am nächsten Tage waren diese Erscheinungen weitgehend verschwunden. Der Ablauf der Erscheinungen war, von der Physostigminspritze bei Patientin II und einer Einträufelung in die Augen von Patient I und II (siehe oben) abgesehen, bei keinem der Patienten durch therapeutische Maßnahmen beeinflusst worden. Der Genuss des Kaninchenfleisches, das damals (April 1919) für manchen einen seltenen Leckerbissen bedeutete, schien auch im Falle dieses atropinvorbehandelten Tieres zuvor deswegen zulässig, weil bekannt ist, dass Pflanzenfresser das Alkaloid zu entgiften vermögen. In der Tat ist die verabreichte Dosis für das Kaninchen noch keineswegs tödlich und auch das Tier, das zu vorstehenden Vergiftungen Anlass gab, war nicht am Atropin gestorben, sonder aus anderem Versuchsanlass getötet worden. Die Folgen zeigten, dass das Kaninchen wohl allerhöchstens die Hälfte der Atropingabe entgiftet haben kann, die Stunde von der Giftspritze bis zum Tode hat also keineswegs zu einer entscheidenden Entgiftung ausgereicht. Quelle: Loewe, S.: Atropin-Vergiftung durch Genuss von Fleisch eines vergifteten Tieres, Sammlung von Vergiftungsfällen, Band 1 (1930), A 18, S. 41 – 44 |
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